111 Jahre Selbsthilfe in Hamburg

Eine historische Abbildung vom Holsteinischen Kamp 26. Am Gebäude hängt ein Transparent mit dem damaligen Vereinsnamen "Blindenverein Hamburg e.V. - Das Louis-Braille-Haus". Das Bild stammt aus dem jahr 1988

Foto: © BSVH

Der Beginn des zweiten Jahrhunderts

2009 feiert der Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg (BSVH) seinen 100. Geburtstag mit der Einweihung des Louis-Braille-Platzes vor der U-Bahn-Station Hamburger Straße, einem Rathaus-Empfang und einem großen Straßenfest. Im selben Jahr tut sich auch auf politischer Ebene einiges. So tritt im März 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention auch in Deutschland in Kraft. Sie markiert einen Wendepunkt im Verständnis von Behinderung, verpflichtet sie doch die Unterzeichnerstaaten zu mehr Aktivitäten in der Behindertenpolitik. Zentral ist der neue Begriff der Inklusion. Knapp gesagt bedeutet Inklusion, dass Menschen mit Behinderung ein Recht haben, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Gibt es hierbei Hindernisse, muss sich nicht mehr der Mensch mit Behinderung anpassen, sondern die Gesellschaft muss sich ändern und Barrieren abbauen.

So steht der Abbau von Barrieren in den kommenden Jahren im Zentrum der Interessenvertretung des BSVH. So macht sich der Verein für mehr Lautsprecheransagen im ÖPNV stark, kämpft gegen schlecht lesbare Anzeigen in Busdisplays, erwirkt neue Warnsignale bei U-Bahn-Türen. In den letzten Jahren zeichnen sich als Zukunftsthemen Verkehrswende und E-Mobilität ab.

Der BSVH wird immer häufiger als Ansprechpartner zum Thema Barrierefreiheit wahrgenommen – sei es von Hamburger Behörden, Architektenbüros oder den Verkehrsbetrieben. Es zeigt sich, dass der Verein diese Nachfrage nicht mehr befriedigen kann, zumal der ganz überwiegende Teil der Arbeit ehrenamtlich geleistet wird. Als Konsequenz hieraus macht sich der BSVH seit 2014 für ein Kompetenzzentrum für ein barrierefreies Hamburg stark. Es ist einer der ganz großen politischen Erfolge des Vereins, dass die Hamburgische Bürgerschaft die Einrichtung und Finanzierung eines solchen Zentrums Ende 2017 beschließt. Im Januar 2019 nimmt das Kompetenzzentrum am Alsterdorfer Markt seine Arbeit auf. Träger des Zentrums sind die Landesarbeitsgemeinschaft für behinderte Menschen, der Verein Barrierefrei Leben und der BSVH, der einen Berater für Barrierefreiheit im öffentlichen Raum und einen Berater für digitale Information und Kommunikation stellt.

Das Thema Digitalisierung spielt in den vergangenen elf Jahren ebenfalls eine zunehmend große Rolle. Der BSVH beteiligt sich in der Zeit an weiteren Projekten zur Barrierefreiheit im Web, bei PDF-Dateien und bei Software. Seit 2019 schließlich führt der BSVH ein vom Bundesarbeitsministerium finanziertes Projekt zu barrierefreien Dokumentenmanagementsystemen durch.

Ebenfalls vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird das Angebot der ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB) finanziert. Hierbei werden seit 2018 bundesweit rund 400 Beratungsangebote finanziert, die sich an Menschen mit Behinderung richten und diesen Personenkreis unabhängig und im Sinne des Peer-Gedankens beraten. Der BSVH ist in Hamburg eine von acht Beratungsstellen und wird dies, nach dem neuesten Bewilligungsbescheid, auch mindestens noch bis Ende 2022 sein.

Ebenfalls seit 2018 beschäftigt der BSVH einen hauptamtlichen Ehrenamtskoordinator und eine Psychologin. Insgesamt hat sich das Angebot des Vereins auch in den vergangenen elf Jahren weiter ausdifferenziert. Die Zahl der Mitarbeitenden ist weiter gestiegen.

Für die Finanzierung all dieser Angebote spielt die Vermögensverwaltung eine ganz zentrale Rolle, hier insbesondere die Einnahmen aus Vermietung. Vor diesem Hintergrund hat der Vereinsvorstand 2014 entschieden, das damals stark sanierungsbedürftige Kulturhaus Lurup im Binsenort abzureißen und auf dem Gelände zwei Wohnhäuser mit insgesamt 16 Wohnungen zu bauen. Im Herbst 2018 waren die Gebäude fertiggestellt und konnten von den Mieterinnen und Mietern bezogen werden.

Vereinsintern sind als wichtige Ereignisse der personelle Wechsel an der Vereinsspitze, sowie weitere Satzungsänderungen zu nennen. 2012 wählte die Generalversammlung Angelika Antefuhr zur 1. Vorsitzenden, die das Amt bis heute inne hat, und Karsten Warnke zum 2. Vorsitzenden. Sie lösten Petra Meyer und Hilding Kissler ab, die 18 bzw. 16 Jahre lang die Geschicke des Vereins geleitet haben. Das Amt des 2. Vorsitzenden wurde von 2016 an von Ingo Dreher ausgeübt, seit 2020 nun von André Rabe.

Vorstand und Verwaltungsrat brachten schließlich etliche Satzungsänderungen auf den Weg. Für die Vereinsentwicklung wohl der wichtigste Punkt ist die Öffnung der ordentlichen Mitgliedschaft für Augenpatientinnen und Augenpatienten, die von der Generalversammlung im Jahr 2018 beschlossen wurde. Seitdem vertritt der BSVH die Interessen aller Menschen, die sehbehindert, blind, hörsehbehindert oder taubblind sind oder deren Erkrankung zur Sehbehinderung oder Erblindung führen kann.

Auch in den ersten elf Jahren des zweiten Vereinsjahrhunderts hat der BSVH also gesellschaftliche und politische Entwicklungen maßgeblich mitgestaltet. Er hat in der Interessenvertretung auf aktuelle Themen reagiert und engagiert für Verbesserungen gestritten. Er hat investiert, um die Zukunft des Vereins zu sichern. Und er hat neue zeitgemäße Angebote geschaffen und sich für weitere Zielgruppen geöffnet. 111 bewegte Jahre liegen hinter unserer Selbsthilfe-Organisation und eine spannende Zukunft vor uns. Gemeinsam sehen wir weiter!