Gründung, politische Ausrichtung und erste Forderungen
Am 4. Januar 1909, dem 100. Geburtstag von Louis Braille, trafen sich einige blinde Männer, um den „Verein der Blinden von Hamburg und Umgegend“ zu gründen. Zunächst einmal mussten sie eine Satzung schreiben und ihre Ziele formulieren.
„Der Verein bezweckt den Zusammenschluss der im Vereinsgebiet ansässigen Blinden zu gemeinschaftlicher Verfolgung gesellschaftlicher Interessen. Der Zweck des Vereins besteht ferner darin, den Mitgliedern durch Rat und Nachweis von Tätigkeit behülflich zu sein.“ (1)
Der Verein stand allen unbescholtenen blinden Personen offen, die im Vereinsgebiet lebten. Als blind galt eine Person, „welche durch fehlendes oder mangelhaftes Augenlicht in ihrem Erwerbsleben gehindert ist“. (2)
Nachdem die Satzung Anfang Juni vom Amtsgericht genehmigt war, wurden Franz Walter Vogel und Willi Heins offiziell als Vorsitzende gewählt und nahmen sehr engagiert ihre Arbeit auf. Schon zwei Jahre später konnten sie einen großen Erfolg für sich verbuchen. Sie erreichten, dass blinde Menschen in Hamburg offiziell als Masseure arbeiten durften. Später richtete die Behörde noch spezielle Kurse für angehende blinde Masseure ein.
Der Vorstand schrieb damals in seinem Brief an das zuständige Medizinalamt: „Wir glauben, diese Bitte eine Forderung der Gerechtigkeit nenne zu dürfen“. (3) Das heißt, man bat nicht mehr um eine Wohltätigkeit, sondern forderte sein Recht.
1912 wurde dann der Reichsdeutsche Blindenverband (RBV) gegründet, ein Zusammenschluss der damals bestehenden deutschen Blindenvereine. Franz Walter Vogel, damals erster Vorsitzender in Hamburg, war auch bei dieser Gründung federführend.
Drei Jahre später organisierten der Blindenverein Hamburg zusammen mit dem RBV eine große Ausstellung im Curio-Haus. Sie zeigten, welche Hilfsmittel es für blinde Menschen gab und stellten Arbeiten von blinden Handwerkern aus, die auch verkauft wurden. Gleichzeitig wurden Spenden für Kriegsblinde gesammelt. Die Veranstaltung war ein voller Erfolg, es kam sehr viel Geld zusammen und zahlreiche Zeitungen berichteten sehr positiv über die ausgestellten Arbeiten.
1919, mittlerweile war Emil Falius der erste Vorsitzende, erstellte der Vorstand ein Papier, das er dem Senat unterbreitete. Darin forderte der Verein
- Eine gute, verstaatlichte Ausbildung blinder Kinder
- Berufsförderung auf allen Ebenen
- Erholungsfürsorge
- Freifahrt auf allen öffentlichen Verkehrsmitteln
- Eine zentrale Abteilung innerhalb der Hamburger Behörden für alle Angelegenheiten des Blindenwesens
- Mitspracherecht blinder Menschen in allen Fragen des Blindenwesens.
Einige dieser Forderungen verstand der Verein auch als eigene Aufgabe, auch wenn sie dabei immer wieder die (finanzielle) Mithilfe von der Stadt und vom Staat einforderten.
So unterstützte der Vorstand die 1925 gegründete Genossenschaft blinder Handwerker, die Hansa. Zum einen kauften sie großzügig Anteile an, zum anderen nutzten sie ihre Erfahrungen im Umgang mit der Politik und Behörden und schrieben Briefe an den Senat und die Wohlfahrtsbehörden, in denen sie um Unterstützung für die Genossenschaft baten. Die Zusammenarbeit zwischen der Genossenschaft und dem Verein muss damals eng gewesen sein, beide hatten eine gemeinsame Geschäftsadresse.
1927 wandte sich der Verein zusammen mit den Blindenanstalten an die Wohlfahrtsbehörde und schlug vor, einen gemeinsamen Ausschuss zu bilden, dem sowohl der Präsident der Wohlfahrtsbehörde als auch Vertreter der Blindenanstalten als auch Vertreter der Selbsthilfeorganisationen angehören sollten.
Die Aufgaben dieses Ausschusses waren:
- „1. Energische Förderung der Unterbringung von Blinden in gewerblichen Betrieben und Arbeitsbeschaffung für Blinde im Allgemeinen.
2. Stellungnahme zu allen wichtigen Maßnahmen, die auf dem Gebiete des Blindenwesens seitens des Wohlfahrtsamtes, der hamburgischen Blindenanstalten oder den Blindenorganisationen geplant werden.
3. Bekämpfung unlauterer Machenschaften beim Vertrieb von Blindenwaren und bei der Veranstaltung von Blindenkonzerten.
4. Aufklärung des Publikums über das Blindenwesen.“ (4)
Gegen einen solchen Ausschuss gab es keine grundsätzlichen Bedenken, und man wurde sich innerhalb eines halben Jahres einig, wenn auch in der Zusammensetzung nicht alle Wünsche des Vereins erfüllt wurden. Außerdem meinte die Stadt, dem Verein damit genug entgegen gekommen zu sein. Der Verein hätte weiterhin noch gerne einen Blindenfürsorger gehabt. Die lehnte die Stadt aber mit der Begründung ab, dass es ja den gemeinsamen Ausschuss gebe.
Ende der zwanziger Jahre wurde innerhalb des Blindenwesens der Begriff „Blindheit“ stärker eingegrenzt. 1909 war der Blindenverein für alle Menschen offen, die „durch fehlendes oder mangelhaftes Augenlicht in ihrem Erwerbsleben gehindert“ waren. Dies lag möglicherweise daran, dass die Medizin gar nicht genauer diagnostizieren konnte.
Aber 1927 stimmten die Teilnehmer auf dem 2. Blindenwohlfahrtskongress in Königsberg für die „Unterscheidung von blinden, praktisch Blinden und Sehschwachen anhand von Sehschärfewerten“. (5)
Dies schlug sich auch in Hamburg in einer Satzungsänderung von 1928 nieder. Ordentliches Mitglied konnten nun Menschen werden, die nach „Maßgabe der sächsischen Richtlinien als völlig blind oder praktisch blind“ (7) eingestuft wurden.
Auf überregionaler Ebene setzte sich der Verein zusammen mit dem RBV und den Verbänden der Blindenlehrer für eine Rente für Zivilblinde ein.
Schon 1927 forderte Rudolf Kraemer, Rechtsberater beim RBV, dass Zivilblinde (oder Friedensblinde) den Kriegsblinden gleichgestellt werden sollten. 1929 wurde in Hamburg auf einer Mitgliederversammlung einstimmig beschlossen, sich mit einer Eingabe an den Reichstag zu wenden. In der Folgezeit demonstrierten sie in Berlin, organisierten mehrere Kundgebungen in Hamburg, zu denen sie Politiker unterschiedlicher Parteien einluden. Die Presseresonanz war sehr gut, politisch konnten sie ihre Forderungen trotzdem nicht durchsetzen. Dieses Thema beschäftigte den Verein bis zum Ende der Weimarer Republik, zumal die wirtschaftliche Situation in Deutschland nicht besser wurde und blinde Menschen besonders darunter zu leiden hatten.