Die Darstellung von Blindheit in Literatur, TV und medialer Berichterstattung bewegt sich zwischen Mitleid und Bewunderung. Und sie ist immer noch nicht frei von Stereotypen. Da sind die „Superblinden“, die auf keinerlei Hilfe angewiesen sind, deren verbleibende Sinne extrem geschärft sind, die überaus musikalisch und frei von jeder Oberflächlichkeit sind. Und auf der anderen Seite gibt es die hilflosen Blinden, die keinen Schritt allein gehen können, die ein Leben in absoluter Dunkelheit führen, die traurig und wütend sind und sich nach ihrem Sehen sehnen.
Die Lebenswirklichkeit der allermeisten blinden und sehbehinderten Menschen liegt irgendwo zwischen diesen Extremen. Sie führen ein ganz normales und – wenn ihre Umwelt es erlaubt – selbstbestimmtes Leben, und dennoch sind sie hin und wieder auf menschliche Hilfe oder auf Nachteilsausgleiche angewiesen.
Ein verzerrtes Bild
Das vermittelte Bild von blinden und sehbehinderten Menschen weicht erheblich vom Durchschnitt der Personengruppe ab. Die allermeisten Betroffenen sind sehbehindert, sie sind also nicht vollkommen blind. Groben Schätzungen zufolge gibt es knapp 150.000 blinde Menschen, aber 500.000 bis eine Million sehbehinderte Menschen in Deutschland. Dennoch überwiegt bis heute die Darstellung von Blindheit. Und der Durchschnittssehbehinderte ist im Seniorenalter. Über 40% sind 80 Jahre oder älter. Dennoch zeigen Medien meist jüngere Menschen.
Die Darstellung von Blindheit dient in fiktiven Medien in der Regel nicht dem Zweck, ein realistisches Bild zu zeichnen. Sie ist vielmehr ein dramaturgisches Mittel. Blindheit steht auch häufig symbolisch für Unwissenheit oder Verblendung. Nicht selten wird Blindheit gleichgesetzt mit Dunkelheit, Tristesse, dem Negativen an sich.
Happyend? Oder, was ist für Blinde gut?
Oft wird die mit Blindheit verbundene Ausgangslage in Filmen, Serien und Büchern in einem Happyend aufgelöst. Ulrike Backofen vom Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg hat 266 Romane und Kurzgeschichten und 433 Spielfilme und Serien, in denen blinde Figuren auftauchen, systematisch nach Happyends durchforstet. Ihr Ergebnis: 332 Medieneinheiten wiesen ein Happyend auf, bei dem die blinde Person einen erkennbaren Anteil am Happyend hatte.
Ein Happyend kann vielschichtig sein. Beispiel: Eine blinde Zeugin trägt dazu bei, dass die Gerechtigkeit siegt. Dies wäre ein Happyend. Sie gerät dabei in große Gefahr und wird gerettet, also das zweite Happyend. Und die Krönung, das dritte Happyend ist, dass sie und der Polizist sich verlieben. Insofern gibt es in der folgenden Statistik zahlreiche Mehrfachnennungen.
- In 173 Medieneinheiten gibt es ein Happyend für die blinde Person.
- In 119 Medieneinheiten macht die blinde Person andere Menschen glücklich.
- In 95 Geschichten besteht zumindest ein Teil des Glücks in einer Versöhnung, Freundschaft oder Liebe.
- In 81 Medieneinheiten besteht das Glück darin, dass die blinde Person geheilt wird, also in der individuellen Überwindung der Blindheit.
Happyend für die blinde Person
In 45 der erfassten Geschichten besteht das Happyend darin, dass eine blinde Person ihre Blindheit akzeptiert oder lernt, Hilfe anzunehmen. Der Großteil dieser Geschichten handelt von späterblindeten Menschen, die oft plötzlich durch eine Krankheit oder einen Unfall mit der neuen Situation konfrontiert sind:
"Obwohl die Dunkelheit vor ihren blinden Augen immerzu fortbestand, fühlte Mona sich nicht mehr so schrecklich fremd in ihrem Körper. Sie hatte akzeptiert, dass sie sich neu erfinden musste. Was für ein Gefühl! Endlich konnte sie freier atmen. Am liebsten wäre Mona nach draußen gerannt, durch die Lindengasse, durch die Heidebachstraße, durch ganz Dortmund, bis nach Wyoming, um allen zuzuschreien: „Ich bin wieder ein ganzer Mensch!“"[1]
Aber auch in den Autobiografien geht es manchmal darum, wie aus einem blinden Kind ohne Selbstbewusstsein ein erwachsener selbstbewusster Mensch wird. Diese Geschichten enden oft, wenn der Autor ein bestimmtes Etappenziel erreicht hat, ein sportliches Ziel, einen Universitätsabschluss, eine Familiengründung.
In einigen Lebensgeschichten geht es auch um Selbstbestätigung, um den Beweis, dass man Herausragendes leisten kann.
In 62 der erfassten Geschichten wird die blinde Person aus einer großen Gefahr gerettet. 28-mal wehrt sich die blinde Person erfolgreich.
Selbst wenn der blinde Protagonist wehrhaft dargestellt wird, spielen die Autoren oder Regisseure mit dem vermeintlichen Widerspruch zur Behinderung: Obwohl sich ihre Helden mutig und klug zur Wehr setzen, gibt es doch immer wieder die Momente der Hilflosigkeit, wenn zum Beispiel die Zuschauer den Täter sehen, bevor ihn die blinde Person bemerkt, oder in denen die blinde Person mit zunehmender Panik in der Stimme fragt “Ist jemand da? Ist jemand da?” Egal wie wehrhaft der Blinde ist, die Blindheit dient in fast allen Fällen der Spannungssteigerung.
In 33 Geschichten und zwei Serien besteht das Happyend für die blinde Person darin, dass sie Zugang zu Bildung erhält oder sich eine berufliche Existenz aufbauen kann. In historischen Geschichten geht es meist darum, dass ein blindes Kind erstmals Zugang zu Bildung erhält. In neueren Geschichten kann es der Besuch eines Blindeninternats, ein Berufsabschluss oder die Möglichkeit sein, im erlernten Beruf zu bleiben.
In 18 Geschichten besteht das Happyend darin, dass die blinde Person Zugang zu Hilfsmitteln erhält. In der Regel handelt es sich dabei um Punktschrift, tastbare Gegenstände oder Hunde. Die originellsten Hilfsmittel sind ein Führesel [2] und ein Führpapagei, der gleichzeitig noch die Farben ansagen kann. [3]
In 8 Geschichten kommen die blinden Protagonisten dazu, ihr Leben neu zu sehen. Das kann religiöser Natur sein, aber auch schlicht die Erkenntnis, dass Geld und Macht nicht alles ist.
„… ich kann Ihnen verraten, dass ich längst nicht mehr so auf mich selbst konzentriert bin, wie ich es früher war.(...)Das Dunkel hilft einem, sich auf das Geistige zu konzentrieren, es kann einem helfen, zu erkennen, was wichtig ist." [4]
Blinde Person macht andere glücklich
In 17 der erfassten Geschichten trägt die blinde Person dazu bei, dass andere einen Reifeprozess durchmachen, in sieben dieser Medieneinheiten sind es Geschichten vom Erwachsenwerden (Initiation –Storys)
Bei Hope Ryden [5] und Adolf Saager [6] sind es Mittelschichtskinder, denen ihre wohlhabenden Eltern bislang alle Sorgen abgenommen haben und denen es imponiert, wie selbstständig blinde Jugendliche in ihrem Alter leben. Dies bringt sie dazu, ihre eigene Rolle zu hinterfragen.
"Nie zuvor in meinem Leben habe ich so viel gelernt, wie in meiner ersten Woche auf der Ranch. Jeder Handgriff musste mir noch gezeigt werden. Und alle erwarteten sie eine ganze Menge von mir. Hier packte jedes Familienmitglied mit an. Sogar Kelly (die blinde Cousine, Anm. der Red.) wurde eingespannt. „Sie muss genauso ihren Mann stehen“, pflegte Onkel John zu sagen. Natürlich konnte ich mich unter diesen Umständen nicht davor drücken, auch meinen Teil zu leisten." [5]
Bei Ani [7] dagegen ist das blinde Mädchen reich und wohlhabend, sie versteht viel von gutem Wein und gutem Benehmen, woran es dem Jungen, der aus sehr viel bescheideneren Verhältnissen kommt, eindeutig mangelt. Der sehende Junge, der bisher den Rest der Welt verachtete, fühlt sich auf einmal klein und dumm, und das etwas ältere blinde Mädchen lässt es ihn auf Schritt und Tritt spüren.
Erwachsene, die durch die Begegnung mit blinden Menschen reifen, sind häufig durch Reichtum oder Erfolg geblendet. Hier entsteht der Einstellungswechsel durch die Konfrontation mit der Not der anderen, meist verbunden mit dem wachsenden Respekt davor, wie klaglos sie ihre Blindheit hinnehmen.
Eng damit zusammen hängt die Variante, dass blinde Menschen anderen neuen Lebensmut machen. Dazu lagen 16 Geschichten vor.
In der Mehrzahl der Fälle sind es blinde Menschen, die andere blinde Menschen ermutigen, also der Selbsthilfe-Gedanke. In vier Geschichten fühlte sich ein sehender Mensch hässlich und blühte auf, wenn er von blinden Menschen geliebt wurde. In den restlichen Geschichten machen sehende, aber sehr unsichere Menschen zusammen mit blinden Menschen Erfahrungen, die sie über sich selbst hinaus wachsen lassen.
In 94 Medieneinheiten haben Versöhnung, Freundschaft und Liebe einen großen Anteil am Happyend. In immerhin 51 Geschichten trägt eine Liebesbeziehung zum guten Ende bei, in 12 Fällen ist sie zumindest angedeutet. Erstaunlicherweise sind nur bei sechs (von über 60) Paaren beide Partner blind, in einem Fall wird dies auch als Notlösung gewertet
"„Hör bitte zu Nicole. Ich habe gründlich nachgedacht. Wir leben nicht mehr ganz in derselben Welt wie die anderen. Ich könnte mir nicht vorstellen, mit einer Sehenden zu leben. Aber wir beide, wir sind doch von derselben Art. (…)“" [8]
In 74 Fällen trägt die blinde Person dazu bei, dass die Gerechtigkeit siegt.
22 mal blinder Zeuge, 28 mal blinder Detektiv oder Polizist (davon zwei Serien),6 mal blinder Rächer.
54 mal wird die blinde Person von sich aus aktiv, d.h. in aller Regel sieht sie ein Unrecht und glaubt aus moralischen Gründen handeln zu müssen, gelegentlich wird sie von der Polizei befragt oder einfach mit der Situation konfrontiert, dass sie sich gewissermaßen in einer Notwehrsituation befindet
53 mal besteht die blinde Person besteht in direkter Auseinandersetzung mit Verbrecher, d.h. es wird in diesen Situationen auch richtig gefährlich.
Nur sehr selten besteht der Einsatz darin, dass die blinde Person „nur“ für das Recht argumentiert oder „Zulieferarbeit“ macht.
Happyend durch Heilung
In den 81 erfassten Heilungsgeschichten werden 34 Personen durch Operationen geheilt Der Großteil der Heilungen ist für Augenärzte wahrscheinlich nicht nachvollziehbar.
"„Ich glaube, richtig erklären kann das keiner. Weder Benji als Betroffener noch ich als Mediziner. Ich vermute, dass Benji, seit er das Pferd bekommen hat, sich nichts sehnlicher wünschte als es sehen zu können. Er wollte seinen Ringo ansehen und nicht nur fühlen können. Durch diesen unbewusst eisernen Willen muss es zu dieser unglaublichen Heilung gekommen sein. Sie können es aber auch als Wunder auffassen.“" [9]
Zumeist ist die Wiederherstellung der Sehfähigkeit von zentraler Bedeutung. Oft dreht sich im jeweiligen Film oder Roman alles von Anfang an darum. In diesen Geschichten macht die Hoffnung auf Heilung das Erlernen von Blindentechniken überflüssig, um nicht zu sagen, es erscheint kontraproduktiv.
"„Ach Großmutter, “ sagte Elschen gedrückt, „ich möchte gar nicht gerne die Blindenschrift lernen. Der Geheimrat hat doch das letzte Mal gesagt, vielleicht kann ich bald wieder sehen. Wenn ich erst einmal die Blindenschrift lerne, kann ich gar nicht mehr daran glauben.“"[10]
In sehr vielen Fällen geht die Heilung mit weiteren Problemlösungen einher: Kaputte Familien verstehen sich wieder, Liebende dürfen sich finden. So sagt ein frisch geheilter Mann:
"Ich wusste, wenn du und ich noch länger zusammengeblieben wären, wäre ich zusammengebrochen und hätte dir gesagt, dass ich dich liebe. Und ich hatte Angst, dass du Mitleid mit mir haben könntest und mich heiratest. Mich, einen Blinden. Das konnte ich nicht dulden, Jani." [11]
Manchmal wird sogar das Mensch-Sein von der Heilung abhängig gemacht:
"„Gott sei gedankt“, sagte Christine aus tiefstem Herzen. „Mein Vroneli ist wieder ein ganzer Mensch.“" [12]
Der Artikel erschien zuerst im Fachmagazin horus - Marburger Beiträge zur Integration Blinder und Sehbehinderter des Deutschen Vereins der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e.V. (dvbs)
Quellen
[1] Margot Berger: Blindes Vertrauen, 2007, S. 153f
[2] C.E. Pothast-Gimberg: Tonia und Freund Corso, 1962
[3] Boomer, der Streuner: Seine große Chance, USA, 1980
[4] William Safire: Der Anschlag, 1978, S. 671f
[5] Hope Ryden: Mein Sommer mit den Wildpferden, 1997, S. 29
[6] Adolf Saager: Die Rettung, 1926
[7] Friedrich Ani: Wie Licht schmeckt, 2002
[8] Roger Bourgeon: Sieg über die Nacht, 1986, S.148f
[9] Christiane Nähring: Auf vier Hufen ins Licht, 1988, S.119
[10]Ilse Grasnick: Elschen – ein Mädchen erlebt etwas Wunderbares, 1951, S.8
[11] Madeleine Brent: Wenn im Tal der Mondbaum blüht, 1984, S. 336
[12] Helen Weilen: Ihr bester Freund, 1967, S. 183
Die Autoren
Heiko Kunert ist Geschäftsführer beim BSVH. Daneben ist er freier Journalist. Er bloggt auf Heikos.blog - für Inklusion und Barrierefreiheit.
Ulrike Backofen forscht beim BSVH seit über 25 Jahren zum Thema "Darstellung von Blindheit und Sehbehinderung in den Medien"